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Innerdeutsche Grenze: 327 Todesopfer mit Namen und Gesicht Von Nada Weigelt

Von Nada Weigelt

/ 08.06.2017 / Erschossen, ertrunken, von Minen zerfetzt: Fast 30 Jahre nach dem
Fall der Mauer ist jetzt das Schicksal der Todesopfer an der
deutsch-deutschen Grenze dokumentiert.

Berlin (dpa) - Der Fluchthelfer hatte noch versichert, das
Schlafmittel für das sechs Monate alte Baby sei völlig unbedenklich.
Doch als die DDR-Polizisten am Grenzübergang Marienborn den
verrosteten roten Opel Rekord kontrollieren, ist der kleine Emanuel
Holzhauer tot - im Hitzestau des Kofferraums erstickt neben seinen
Eltern, für die ein westdeutscher Verwandter 25 000 Mark für die
Flucht aus der SED-Diktatur gezahlt hatte.

Emanuel Holzhauer ist das jüngste Opfer des DDR-Grenzregimes, dessen
Schicksal Wissenschaftler der Freien Universität Berlin jetzt
rekonstruiert haben. Nach fünfjährigen Recherchen legte der
Forschungsverbund SED-Staat am Mittwoch erstmals belegbare Zahlen zu
den Toten an der einstigen deutsch-deutschen Grenze vor.

Insgesamt 327 Menschen aus Ost und West fielen demnach der
DDR-Abschottungspolitik zum Opfer, die weitaus meisten jünger als 35
Jahre (80 Prozent). «Diese Grenze war, wenn der Zynismus erlaubt ist,
noch brutaler als die Berliner Mauer», sagte Projektleiter Prof.
Klaus Schroeder. «Menschen, die auf Bodenminen traten, sind zerfetzt
worden, zum Teil sind sie im Unterholz nicht gesehen worden, Monate
später wurden sie skelettiert als Leichen gefunden.»

Die Zahl der Mauertoten in Berlin war schon in einem Vorgängerprojekt
bis 2009 erforscht worden: Mindestens 139 Menschen kamen dort bei
Fluchtversuchen ums Leben. Mit der neuen Untersuchung sei jetzt die
Aufarbeitung der Todesfälle an der knapp 1400 Kilometer langen
innerdeutschen Grenze abgeschlossen, hieß es.

Die Ergebnisse geben den Opfern wieder Namen und Gesicht, sagt
Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU). «Das sind wir den
Menschen schuldig, die für Freiheit und Selbstentfaltung ihr Leben
ließen.»

Insgesamt sind die Wissenschaftler in akribischer Arbeit fast 1500
Verdachtsfällen seit der Gründung der DDR bis zur Grenzöffnung 1989
nachgegangen. Ihr «Totenbuch» dokumentiert erschütternd die 327
belegbaren Schicksale.

Ältestes Opfer war ein 81-jähriger Bauer aus Niedersachsen, der 1967
irrtümlich in ein Minenfeld geriet. «Landminen rissen ihm beide Beine
ab. Sein Todeskampf dauerte mehr als drei Stunden», schreiben die
Forscher. «Er verblutete unter den Augen eines DDR-Regimentsarztes,
der sich nicht in den verminten Grenzstreifen wagte.»

Freilich: Nicht nur Menschen, die nach Verrat, Verfolgung oder
Schikane ihre Heimat verlassen wollten, wurden zu Opfern. Die
Experten untersuchten auch mehr als 200 Suizide, die es in den
Grenztruppen gab - mindestens 44 davon waren dienstlich bedingt. «Das
war keineswegs eine homogene waffenstarrende Truppe», sagte Co-Autor
Staadt. «Es gab sehr viele junge mutige Männer in den Grenztruppen,
die sich geweigert haben, die Waffe gegen Zivilpersonen zu erheben.»

Das Forschungsprojekt war von Grütters mit rund 450 000 Euro
unterstützt worden. Von den 16 Bundesländern beteiligten sich nach
Angaben von Projektleiter Schroeder trotz mehrfacher Bitte nur
Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen - mit zusammen knapp 200 000
Euro.

Weiter nicht endgültig geklärt bleiben vorerst die Todesfälle von
DDR-Bürgern bei Fluchtversuchen über die Ostsee oder in andere
Ostblockstaaten - hier rechnen die Experten nochmals mit 200 bis 500
Opfern. Dennoch steht nach den Worten von Staadt - auch mit Blick auf
die aktuellen Debatten um Grenzen - schon jetzt fest: «Wenn Menschen
Freiheit und Selbstbestimmung suchen, werden sie auch durch Mauer und
Stacheldraht nicht aufgehalten.»


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